Harald909 schrieb:
Jetzt mal im Ernst: Das Problem an der ganzen Sache ist, dass es nicht wirklich Alternativen zu geben scheint. Oder einen ehemaligen Bundespräsidenten (Herzog, "Ruckrede" 1997) zitiert: "Es gibt kein Erkenntnisdefizit, aber ein Umsetzungsdefizit." Auch der letzte Bundeskanzler meinte zu Hartz IV "alternativlos" und er wurde vom Sparkassendirektor Köhler brav dafür gelobt. Heute wissen wir: Die bessere (zumindest billigere) Alternative wäre es gewesen, alles so zu lassen, wie es ist.
Ein Umsetzungsdefizit haben wir definitiv. Da schlägt das fehlende Rückgrat halt voll durch.
Hartz IV ging sicherlich in mehrerlei Hinsicht richtig in die Hose, aber es hat auf der anderen Seite auch eine Menge in den Köpfen bewegt. Und wenn es nur die Erkenntnis ist, sich weniger auf den Staat zu verlassen, ist das immerhin schon etwas.
Ich glaube, dass es Alternativen gibt [vgl. die Entwicklung in England, Neuseeland oder gemäßigter in Skandinavien, Österreich und der Schweiz (wenn auch mit teils nicht reproduzierbaren Vorteilen, s.o.)], sich aber niemand traut, das in voller Konsequenz durchzusetzen.
Harald909 schrieb:
Ich halte jedoch im Gegensatz zu Herzog unser Erkenntnisdefizit für enorm. Bis heute fehlt mir eine eingängige (!) Erklärung für die Arbeitslosigkeit in Deutschland. Es findet auch keine Diskussion in der Politik statt, ob wirklich "sozial ist, was Arbeit schafft". Vom Mythos "Vollbeschäftigung" mal ganz zu schweigen. Denn es geht ja nicht nur um Beschäftigung, sondern auch um Partizipation am Wohlstand unseres Wohlstandes.
Die kann ich Dir auch nicht liefern. Was ich glaube, ist, dass es sich um ein sehr komplexes Problem mit unglaublich vielen Facetten handelt. Arbeitslosigkeit und vor allem: Arbeitslose gleich zu behandeln und damit letztendlich einfach nur zu verwalten erscheint mir daher jedenfalls grundfalsch.
Und ja: Das Wörtchen "Vollbeschäftigung" ist fast schon eine Steigerung von "Reform".
Harald909 schrieb:
Hier werden wir aber mehr und mehr mit dem Phänomen der Ungleichverteiltung von Chancen und Risiken konfrontiert. Man hat den Eindruck, es müsse sich unbedingt etwas bewegen, da sind sich alle einig, aber keiner weiß wohin.
Ich glaube, dass immer mehr zumindest vermuten, wo es hingehen wird. Und das schmeckt halt niemandem. Zunächst einmal den reinen Empfängern nicht, aber ebensowenig den Einzahlern, denn die partizipieren ja indirekt immer auch von den Empfängern, etwa wenn eben diese sich ein Brötchen beim Bäcker von dem Geld kaufen, das dieser gerade ans Finanzamt überwiesen hat, um das mal überspitzt zu sagen.
Harald909 schrieb:
In den USA, Großbritannien oder Neuseeland (dort kenne ich die Situation), sind zwar die Arbeitslosenraten geringer als hier und die Wirtschaft dynamischer. Dafür ist aber auch der Unterschied zwischen Arm und Reich wesentlich größer und die Sozialleistungen wesentlich geringer. Dort erkennt man den sozialen Status an den Zähnen und an der Lebenserwartung. Dort geht es vielen Menschen wesentlich dreckiger als hier. Wollen wir das? Ist das die globale Zukunft? Unsere einzige Chance? Wer sich auf der Gewinnerseite eines solchen Systems wähnt oder hofft, der wird vielleicht dafür sein, hier kommt "erst das Fressen und dann die Moral" (B. Brecht). In Deutschland gibt es starke Lobbys, die das wollen.
Es gibt nur sehr, sehr wenige Gewinner, wenn es nach unten geht. Wie gesagt: indirekt partizipieren alle am Geld"segen" [1 Billionen Euro, übrigens; eine Summe, die ich mir nie richtig vorstellen kann], der "umverteilt" wird.
Ich möchte aber noch einmal meine Frage von oben stellen:
Ist denn das Ziel tatsächlich die Umlage? Das Ziel müßte doch darin bestehen, die Umlage überflüssig zu machen, oder? Und klar: Es wird immer Menschen geben, die an einem "normalen" Leben, so wie wir es leben dürfen, nicht teilhaben können, aber ich glaube an den Rest und das er es selbst schaffen kann, würde man ihn denn lassen!
Harald909 schrieb:
Auf der anderen Seite gibt es v.a. die skandinavischen Staaten, die noch immer stärker auf Solidarität denn auf Konkurrenz bauen. Auch dort musste der Sozialstaat schon Federn lassen, aber man hat doch einen ziemlichen Einfallsreichtum entwickelt, um der Globalisierung zu trotzen und zugleich in ihr zu bestehen.
Nichts gegen diesen "Einfallsreichtum", aber er funktioniert nur solange, wie es keine europaweit homogenisierten Steuer- und Kapitalmarktsysteme gibt. Viele dieser Länder ziehen sich ja nicht selbst aus dem Sumpf, indem sie etwa ihren Bildungsstand erhöhen, sondern importieren einfach Human- und Finanzkapital. Übrigens kein neues Konzept, sondern der Weg, den die USA schon seit Jahrhunderten gehen.
Harald909 schrieb:
Das beantwortet aber nicht die Frage, ob die globale Wettbewerbs- und Konkurrenzgesellschaft ein Naturereignis ist. Oder ist sie vielmehr menschen- (und politik-)gemacht und damit ebenfalls veränderbar ist?
Zunächst einmal ist das Umwelt, auf die jeder reagieren muss [wenn er nicht stehenbleiben will] und die sich in dieser Dimension von einzelnen [Staaten, Firmen, Organisationen] meiner Meinung nach kaum beeinflussen läßt.
Andererseits bieten verschiedene Kooperationsformen natürlich Chancen, aus Nachteilen Vorteile zu machen. Und machen wir uns doch bitte nichts vor: Deutschland war schon ein Meister der Globalisierung, als das Wort noch nicht einmal Eingang in den Duden gefunden hatte.
Harald909 schrieb:
Wenn nicht, dann kann unsere Demokratie eigentlich schon abdanken, denn die wesentlichen Faktoren für die gesellschaftliche und ökonomische Realität sind dann nicht mehr gestaltbar.
In vielerlei Hinsicht glaube ich tatsächlich, dass Politik kaum noch Gestaltungsspielräume hat. Häufig selbst verschuldet [Finanzen] und häufig, weil die Relevanz von Deutschland im Verhältnis zu allen anderen Ländern dieser Welt halt äußerst begrenzt ist.
Harald909 schrieb:
Politik wäre machtlos und könnte irgendwelchen autoritären Expertengremien überlassen werden. Dafür wurde hier schon mal das Wort "Faschismus" gebraucht. Ob es passt, lasse ich mal dahingestellt, ein Demokratieverlust durch den "Terror der Ökonomie" ist für mich auf jeden Fall festzustellen. Die schwindende Wahlbeteiligung demonstriert dies eindrucksvoll.
Diese Angst habe ich nicht. Richtig ist aber: Politik muss sich immer mehr auf die reine Moderation und Kommunikation verlagern und wird immer weniger proaktiv gestalten können, soweit das heute überhaupt noch möglich ist. Diesen Unterschied scheint man aber weder in Berlin noch sonstwo begreifen zu wollen.
Harald909 schrieb:
Kommen wir zu einem anderen Ergebnis, dann müsste eine breite Diskussion einsetzen, was die Menschen in Deutschland eigentlich wollen. Ich glaube, die meisten wollen eher den gemütlichen und kuscheligen Sozialstaat der alten Bundesrepublik. Zu Recht, wie ich meine. Sodann müsste man sehen, wie dieser verteidigt, umgesetzt, ausgebaut werden könnte. Nicht trotz der Globalisierung, sondern unter Gestaltung der Globalisierung. Und das wäre die nächste Diskussion.
Natürlich will zunächst einmal niemand etwas Neues, solange das Alte wenigstens noch irgendwie funktioniert. Denn Neues bedeutet: Lernen, Anpassen, Umdenken. Und das ist dummerweise anstrengend [siehe auch
hier ![Wink ;) ;)](/community/styles/apfeltalk/smilies/Wink.png)
].
Die Umwelt schlicht nicht wahrnehmen zu wollen, ist Ignoranz. Und Ignoranz ist der Anfang vom Ende.