Jetzt das wieder. Haben wir in diesem Thread alle 15 Seiten, immer gemischt mit dieser Klassenkampf Polemik. Daher mein Eingangspost, den Raven zitierte. Natürlich KANN jeder tragen, was er möchte. Die Frage ist doch, WARUM er es tut.
Oder andersherum, warum muss ich mich ständig rechtfertigen, wenn ich korrekt gekleidet bin, anstatt der Rest sich rechtfertigen sollte, weil er so scheisse aussieht.
Natürlich sagt die Kleidung nichts über den Charakter oder "Wert" eines Menschen aus und selbstverständlich kann ich eine Oper auch in kurzer Hose geniessen oder im T-Shirt ein ausgewiesener Experte der Barock Musik sein. Es geht aber auch um Respekt, Wertschätzung und Rücksichtnahme. Gegenüber dem Ereignis, dem Umfeld oder auch dem Partner. Natürlich kann ich auch in Flip Flops im vier Sterne Restaurant schlemmen. Ich bezahl ja schliesslich dafür, Was schert es mich, dem Nachbartisch meine Hornhaut an den Füssen zuzumuten. Meine Frau, die sich ins kleine Schwarze geworfen hat, kennt mich auch, von daher brauche ich kein Hemd, das geile AC/DC Shirt reicht auch.
Und darin liegt das Hauptproblem begründet, das heute nahezu alles gesellschaftlich akzeptiert ist. Der Hang zur Individualisierung des Individuums wird als Grundrecht verstanden, Rücksicht auf gesellschaftliche, intellektuelle oder sonstige Gepflogenheiten findet unter dem Credo "Ich, Alles, Sofort" nicht mehr statt. Der Deutsche hat es einfach verlernt und eifert stattdessen vermeintlichen Vorbildern nach. Bei der Flut der Kreaturen, die fliessend vom HarzIV Empfänger zum Superstar / Daily Soap / Schauspieler usw. mutieren, kann sich jeder ausmalen, wie das ausgeht.
Ein Anzug ohne Krawatte kann gut aussehen, das setzt aber voraus, das man den Anzug, die Krawatte und den gesellschaftlichen-kulturellen Kontext dahinter verstanden hat.
Trägt man den Anzug beispielsweise statt mit Krawatte mit einem Ascot, was ich durchaus gerne tue, wird man schon wieder schräg angeschaut und in aller Regel, je nach Umfeld, als schwul, arrogant, albern oder altmodisch bezeichnet. Es fehlt der Masse schlicht an Erfahrung. Schaut man alte Fotos aus den 30er-60er Jahren an, war das durchaus gängig, ja sogar hip.
Letztlich ist es bei diesem Thema wieder so, das es kein Schwarz und Weiß gibt, sondern nur eine endlose Aneinanderreihung von Grau. Abhängig vom Beruf, sozialem Umfeld und Alter wird die Wahrnehmung und Bewertung dieser "Kleidung" weit auseinandergehen.
Im Vorort, der Kleinstadt oder dem deutschen Mittelstand ist man mit dieser Kombi sicher die coolste Sau am Platze. Und bis Mitte 20 kann man so gerüstet sicher den Latin Lover geben. Im konservativen Umfeld und einem gewissen Alter tut man das einfach nicht, wirkt per se lächerlich oder hat schlicht nie darüber nachgedacht.
Das Problem ist also eher ein soziokulturelles, in Deutschland ein Ergebnis verfallender Werte, mangelnder Disziplin und kleinbürgerlicher Gleichmacherei. In einem Land mit einer derartigen Eliteparanoia, dem fast schon manischen Bedürfnis nicht aufzufallen und 68er motivierter Gleichmacherei, ist eine solche Diskussion von vornherein ebenso fruchtlos wie zum scheitern verurteilt.
Die zahlreichen, ergebnislosen Threads gleichen Inhalts zu diesem Thema belegen es.
Solange das Mittelmaß regiert und jedem eingeredet wird, er habe alle Rechte auf Alles ohne entsprechende Leistungsbereitsbereitschaft, in einer derart erregungsgesteuerten Neiddemokratie wie der Deutschen, werden solche Diskussionen immer scheitern, weil sie schlicht als unnütz empfunden werden.
Die Allmacht der Mehrheit ist dann besonders fürchterlich, wenn sie eine Allianz mit der Mittelmässigkeit eingeht. Das ist in Deutschland seit 50 Jahren der Fall.
Und nein, das hat nichts mit Geld zu tun. Camp David und Jack Wolfskin ist nicht billig, auch wenn es so aussieht. Das hat eher etwas damit zu tun, das sich der Mittelstand in Deutschland weitestgehend nur noch über Geld definiert. Die früheren Ideale dieser Schicht, das sgn. Bildungsbürgertum, geprägt von humanistischen Werten, ist tot.
Es ist also nicht das Problem, das man es könnte, sondern das man es nicht will mit der Begründung von Bequemlichkeit, eigener Entfaltung oder schlichtweg Gedankenlosigkeit.
Auf der Durchreise war ich Freitag Abend auf einer öffentlichen, festlichen Abendveranstaltung. Gut, es war heiss, aber ausser mir war unter 2500 Gästen nur noch ein Anderer, der überhaupt ein Sakko trug. ( Der männliche Part des Pärchens mit dem wir uns trafen ) Alle anderen Männer trugen, wenn es hoch kam, lange Hosen und ein Kurzarmhemd. Die gefühlte Hälfte kurze Hosen, Badelatschen und bunte Shirts. Die Damen dieser Herren waren in der Regel 3 Stufen besser gekleidet. Aber mit genügend Bier geht das schon. Sicher tut es dem Musikgenuss keinen Abbruch, wenn ich kaum etwas anhabe. Aber ist das dem Anlass angemessen? Wie sieht es mit Respekt gegenüber den anderen Gästen aus? Und, vor allem, warum macht man sich über mich, im Dinner Jacket, lustig?
Was soll ich dem Frosch vom Meer erzählen, kennt er doch nur seinen Teich.