Ich glaube, dass das lange nicht mehr stimmt. Die Gesellschaft, die ich in den 1970er Jahren noch als Kind erlebte, hat sich seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Wir leben in einer Zeit, wo Du für (wahrhaftige) Geschlechtergerechtigkeit niemanden mehr mühsam überzeugen musst, wo die Frage anstatt "ob" eigentlich meist nur noch "wie" lautet.
Diese Ansicht halte ich für bestenfalls naiv.
Und es gibt immer noch jede Menge Aspekte im täglichen Leben, wo eine Verbesserung nötig ist, aber in den allermeisten Fällen ganz einfach, weil das mitunter einfach sehr schwer zu verwirklichen ist.
Wie ich bereits ausgeführt habe, die diesbezüglichen Beharrungskräfte stammen meistens von dem Personenkreis, der sich mit dem aktuellen Status quo sehr gut arrangiert hat. Ist ja fast verständlich, ich profitiere von diesem Status quo auch seit fast 40 Jahren. Da ist es schon verlockend, Anstrengungen zu diskreditieren, hier Veränderungen herbeiführen zu wollen.
"Schwer" ist da häufig gar nicht so viel, es fehlt eher am Willen.
Dass ich jetzt sehr entschieden eine Position gegen das "Gendern" einnehme, hat viel mit der Vehemenz zu tun, mit der das im Moment in verschiedenen Bereichen unseres Lebens erzwungen wird.
Das ist ja menschlich grundsätzlich nachvollziehbar, wenn man aber in einem Internetforum lange Aufsätze zu dem Thema schreibt sollte man auch genug Selbstreflektion besitzen um zu erkennen, dass "wenn ich gezwungen werde will ich das nicht" kein logisches Argument ist.
Hier muss ich entschieden widersprechen. Öffentliche, durch den Staat getragene oder sogar auch rein staatliche Institutionen bedürfen bei solchen Entscheidungen demokratischer Legitimation.
Diese Institutionen bedürfen aber für ihre internen Richtlinien zur Kommunikation keine gesamtgesellschaftliche, sondern eben nur eine interne Legitimation. Und da z.B. jede Universität eigene Richtlinien zum Gendern festlegt, gehe ich davon aus, dass diese gegeben ist. Universitäten sind nicht üblicherweise diktatorisch organisiert.
Es ist nicht die Aufgabe des Staats, das Volk zu erziehen (das wäre reiner Autoritarismus), sondern ein Instrument des Willens der Mehrheit der Gesellschaft zu sein.
In dieser Absolutheit ist diese Aussage bezüglich mehrerer Aspekte zumindest fragwürdig. Gerade ein demokratischer und pluralistischer Staat, der die Grundrechte
aller BürgerInnen zu schützen hat, darf gar nicht
lediglich ein Instrument des Willens der Mehrheit sein. Und dieser Staat wird auch immer Bereiche finden, in denen gesellschaftliche Richtungen gelenkt werden müssen. Das fängt bei der Gurtpflicht an und hört bei Bemühungen zu echter Gleichberechtigung noch lange nicht auf.
Genau, von unten nach oben.
Bitte lies meine Aussage noch einmal.
Ich wiederhole sie aber auch gerne - Sprache entwickelt sich von unten nach oben
und von oben nach unten.
Nach meiner Erfahrung ist, wenn Du Respekt in einer Gesellschaft erreichen willst, das grundlegende Muster, jeden Menschen ungeachtet des Geschlechts, Hautfarbe, Religion etc. zuallererst als Person zu betrachten und auch so zu behandeln.
Ja, das wäre ganz toll. Ist aber eben nicht so. Und ein Problem beim Kampf gegen Diskriminierung, egal ob aufgrund Geschlecht, sexueller Orientierung oder Hautfarbe, sind Leute, die "keinen Unterschied machen" oder "keine Farben sehen".
Diese zunächst einmal löblich erscheinende Haltung verstellt nämlich häufig den Blick auf die faktischen Nachteile, die Geschlecht oder Hautfarbe in den letzten Jahrhunderten bedeutet haben und weiterhin bedeuten.
Und diese Haltung können sich auch meistens nur Leute leisten, die noch nie aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe Diskriminierung erfahren mussten. Da redet es sich immer ganz leicht locker flockig von "sind doch alle Personen".
Stattdessen könnte man auch einfach mal Menschen mit Diskriminierungserfahrungen zuhören und erkennen, dass wir von "alles Personen" noch ganz weit weg sind.
es wird aber außer acht gelassen, dass die Sprachformen irgendwann einfach unabhägig davon geworden sind. Jede Sprachform hat irgendeinen historischen Hintergrund.
Mehr noch, jede Sprachform ist gemacht. Und ja, historisch. Beides darf Grund genug sein, dieses menschengemachte in der Gegenwart zu hinterfragen.
Und das ist dann keine "Verunglimpfung" oder gar (mancher entblödet sich nicht, hier dieses Wort zu benutzen) "Vergewaltigung" der Sprache.
Wenn wir nun alle historischen Wurzeln aufdröseln und entsprechend die Sprache umdesignen wollen, haben wir wirklich etwas zu tun.
Na zum Glück gibt es doch Menschen, die sich damit beschäftigen. Wenn viel zu tun ist, muss ja mal jemand anfangen.
Wir haben es hier aus meiner Sicht mit einer künstlich geschaffenen Befindlichkeit zu tun, die - siehe Umfragen - nur von einer deutlichen Minderheit in unserer Gesellschaft überhaupt so empfunden wird.
Wie gesagt, mir scheint, wenn wir schon über Sprache reden, viel wichtiger, Trennungen aufzuheben. Die künstlich eingeführte Trennung nach Geschlechtern empfinde ich als eher kontraproduktiv. Ansonsten möchte ich auch gern auf die wirklichen Probleme unserer Gesellschaft verweisen, worauf ich oben ja schon eingegangen bin.
Wie gesagt - die "Mehrheit" darf in einer Demokratie, in der Grundrechte geschützt werden sollen, niemals der alleinige Maßstab sein. Ein wichtiger, ohne Frage, aber eben nicht der alleinige.
Und es ist auch unwichtig, was als "wirkliche Probleme" definiert wird, wir können und dürfen uns nämlich als Gesellschaft mit mehr als einer Sache befassen. Und es wird immer Menschen geben, die sich mit etwas befassen, was mir persönlich jetzt nicht ganz so dringend erscheint. Denen das vorzuwerfen ist in einer arbeitsteiligen Gesellschaft aber auch etwas hanebüchen.
Und die Abwertung von Diskriminierungserfahrungen durch Menschen, die solche (in dieser Gesellschaft) wenig bis gar nicht erleben dürften, als "künstlich geschaffene Befindlichkeiten", lässt zwar tief blicken, hilft der Diskussion aber definitiv nicht weiter.