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Sind wir unverbindlicher geworden?

Wenn man sich früher verabredet hat – und mit früher meine ich die Pre-WhatsApp-Smartphone-Ära – war der Termin gesetzt. Man konnte sich darauf verlassen und die anderen Termine und Gegebenheiten drumherum planen. Heutzutage erschleicht sich mir das Gefühl, dass wir alle sehr viel unverbindlicher geworden sind. Termine werden kurzfristig abgesagt, weil man erstens das ganz schnell per WhatsApp machen und zweitens auf den gleichen Wege ja eine Alternative finden kann.

Halten wir uns heute alle Optionen immer in alle Richtungen offen? Es könnte ja die bessere Party-Einladung oder das noch geilere Date dabei herauskommen. Sehen wir wirklich nur noch unseren eigenen Vorteil, wenn wir 10 Minuten vor dem verabredeten Termin unsere Meinung ändern, oder waren wir schon immer so und haben nur – dank der vielfältigen technischen Möglichkeiten der heutigen Zeit – weniger Hemmungen uns so zu verhalten?

Nicht falsch verstehen, hier schreibt kein enttäuschter Mensch, der vom letzten Date sitzen gelassen wurde. (Obwohl das auch schon vorgekommen ist 😉 ) Nein, mir geht es wirklich um diese grundsätzliche Frage: Gehen wir lockerer mit den Dingen um, die früher mal in Beton gemeißelt waren? Ich glaube nämlich ja, das ist so. Es macht uns nicht mehr viel aus, wenn wir Zusagen aller Art – und damit meine ich nicht nur persönliche Treffen – kurzfristig wieder zurücknehmen. Wir leben in einer Welt der Optionen. Man hat nicht mehr nur drei TV-Kanäle sondern 3.000, man hat nicht mehr eine Chat-App sondern 10, es gibt nicht mehr nur einen Terminkalender sondern 25.

Alleine die Kaffee- und Getränkekombinationen einer großen amerikanischen Kaffeehaus-Kette übersteigen die 100.000 Marke deutlich. Ich habe mal in einem Sandwich-Laden in San Francisco entnervt aufgegeben, weil nach fünf Minuten immer noch nicht alle Optionen des belegten Brotes abgefragt waren. Solche Beispiele gibt es zuhauf. Kann es sein, dass wir angesichts der immer komplexer werdenden Wahlmöglichkeiten den Überblick verlieren?

Was hat das Ganze mit Verbindlichkeit zu tun? Aus meiner bescheidenen Sicht und der Überforderung, die wir alle im Alltag erleben, entwickelt sich eine Art Trotz. Ich will wieder Herr meiner Selbst sein und daher sage ich nichts zu, was mich nicht wirklich interessiert und ich nehme mir das Recht heraus, meine Meinung und damit auch die Zusage spontan zu ändern. Spontan ist gut, zeugt von Flexibilität (die ich damit auch allen anderen abverlange) und ich passe damit gut in die Zeit. (Und wer will das nicht?)

Ich gebe zu, das Ganze ist nicht sehr Tiefenpsychologisch analysiert. Ich glaube dennoch, dass wir uns nichts vergeben, wenn wir ab und zu wieder verbindlicher werden. Ich versuche mal mein Bestes, wahrscheinlich.

Michael Reimann

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