Viele haben versucht, an den Erfolg von WhatsApp als Messenger heranzukommen. Viele sind dabei auf der Strecke geblieben. Warum sollte man auch versuchen, den Platzhirschen anzugreifen? Ein sinnloses Unterfangen? Amazon versucht es und hat vielleicht eine kleine Chance verdient, finde ich.
Der Markt der Messenger ist maximal fragmentiert. Darüber brauchen wir nicht diskutieren. Das WhatsApp so ziemlich alles dominiert, ist auch klar. Die Tatsache, dass zahlreiche Projekte, die es besser – und sicherer – machen wollten gescheitert sind, zeigt ja: Wer heute noch mit einem Messenger an den Mark gehen will, muss entweder verrückt sein, zu viel Geld oder Spaß am eigenen Untergang haben. Dennoch und trotz aller negativen Vorzeichen versucht es Amazon.
Der neue Dienst soll „Anytime“ heißen
Mit „Anytime“ will man einen Dienst an den Start bringen, der alle bekannten Möglichkeiten des Chats bietet und gleichzeitig auf allen Systemen verfügbar ist. Damit und mit der Tatsache, dass man von Mobilfunknummern unabhängig sein will, versucht der Konzern zu punkten. WhatsApp beschränkt den Anwender auf ein Gerät (in der Regel auf das Smartphone). Dieses kann dann noch mit WhatsApp Web per Browser oder App genutzt werden. Kommt aber ein zweites Smartphone dazu wird es bei WhatsApp schon eng.
Apple mehr und mehr Außenseiter?
Apple auf der anderen Seite geht zwar den Weg, iMessage an die Apple ID zu binden (und die Mobilnummer) und somit auf allen Devices einigermaßen synchron zu halten. Beschränkt Gleichzeitig die Nutzung aber auf iOS und macOS. Damit ist eine plattformunabhängige Kommunikation nicht möglich. Nette Spielereien, wie iMessage-Sticker und animierte Hintergründe helfen da leider auch nicht mehr.
Threema aus der Schweiz setzt voll auf Sicherheit und bietet verschlüsselte Kommunikation nach höchstem Standard. Leider ziehen die Schweizer nur müh- und langsam nach was Funktionen angeht und bieten zum Beispiel bei der iOS-Version noch keinen Web-Zugriff an.
Die Liste der Dienste und ihre Vor- und Nachteile ließe sich an dieser Stelle beliebig verlängern. Fragt man drei Leute nach ihren bevorzugten Messengern bekommt man vier Antworten. Der Markt ist also kaputt. Anders kann man es nicht ausdrücken.
Nun auch noch Amazon
Warum also um alles in der Welt will nun Amazon da einsteigen. Die Strategie ist zwar nicht offiziell bekannt, aber leicht durchschaubar. Amazon ist längst nicht mehr nur der Online-Buchhändler, der im Juli 1995 mit einer Million Bücher an den Start ging. Amazon ist eine Technologie-Plattform mit einer gigantischen Infrastruktur. Viele Anbieter, Dienste und Services laufen in Rechenzentren von Amazon. Mit anderen Worten: Amazon hat auf jeden Fall die globale Infrastruktur, um einen solchen Dienst „ganz nebenbei“ anzubieten.
Aber die Technik dahinter ist ja nicht alles. Amazon möchte schon seit Jahren auf vielen Ebenen Kunden an sich binden. Das passiert auf langfristiger Basis. Mit Prime, hat man dazu einen Dienst geschaffen, der Kunden immer stärker an die Plattform bindet. Es ist eben nicht mehr nur das einfache Einkaufen auf der Seite, es ist viel mehr ein multimediales Erlebnis bestehend aus Musik, Filmen, Serien und Büchern, das Amazon seinen Kunden bietet. Dazu kommt der Einkauf von Dingen des täglichen Bedarfs (auch über die so genannten Dash Buttons).
Mit Echo hat Amazon jetzt schon eine breite Basis in den Wohnzimmern, das FireTV und der FireTV-Stick erfreuen sich großer Beliebtheit und letztendlich landet Amazon auch auf dem Apple TV der vierten Generation.
Mit anderen Worten: Man kann dem Konzern zwar entgehen, aber es wird zunehmend schwieriger.
Was hat das alles aber mit der Strategie hinter einem Chat-Client zu tun, kann man an dieser Stelle fragen. Ich finde eine ganze Menge. Auf mehreren Ebenen. Zum einen auf der emotionalen Ebene. Amazon hat einen guten Ruf. Der Dienst funktioniert. Die Waren werden schnell geliefert. Filme und Serien lassen sich auf vielen Geräten problemlos schauen. Amazon Echo erkennt oft und mit wachsender Rate was der Nutzer haben will. Die Sicherheit wird ebenfalls groß geschrieben.
Wie kann man Kunden dafür gewinnen?
Bringt man also einen eigenen Messenger, kann man auf einen guten Ruf bauen. Viele Kunden vertrauen Amazon als großem Anbieter. Neben Vertrauen in die Sicherheit kommt auch Vertrauen in das reibungslose Funktionieren der Plattform hinzu. Diese Vorschusslorbeeren könnten einem Dienst wie Anytime helfen recht schnell auf die Füße zu kommen.
Was aber nützt ein Dienst, wenn ihn keiner nutzt. Mit anderen Worten, wie will Amazon es schaffen, Anytime mit einer breiten Userbasis auszustatten. Da hat der Konzern in den letzten Jahren sehr viele Erfahrungen gemacht. User an einen Dienst heranzuführen ist eine der Grundlagen, auf der Amazon arbeitet. Es gibt zahlreiche Ideen, wie das erfolgen könnte. Man könnte beispielsweise über begrenzte gratis Prime-Mitgliedschaften User dazu bewegen, den Dienst zu nutzen, oder über den Zugriff auf exklusive Serien oder Filminhalte. Die Möglichkeiten, die der Riese hat, sind vielfältig.
Damit ist zumindest ein guter Start von Anytime gesichert. Ob der Dienst allerdings Bestand haben wird, muss dann die Zeit zeigen. Plattform- und Geräteunabhängig soll er sein. Es sollen sich mit beliebig vielen Geräten nutzen lassen. Ob und die wie die Bindung über das Amazon-Login und einem eventuell vorhandenen Prime-Account erfolgt ist noch nicht klar.
Kernmarkt sind die USA
Ich bin mir jedenfalls sicher, dass Amazon eine gute Software an den Start bringen kann, wenn sie es wirklich ernst meinen. Ob sie WhatsApp hier in Europa damit den Rang ablaufen können, bleibt fraglich. Im Kernmarkt in den USA ist WhatsApp aber sowieso nicht so erfolgreich wie bei uns. Da hätte Anytime sicher eine bessere Chance. Ob Apple (endlich) nachzieht und iMessage für alle Plattformen außerhalb des eigenen Ökosystems öffnet, bleibt allerdings fraglich. Das ist wiederum ist sehr schade.